Ihre Geschichte war so gut, sie klang fast ein bisschen ausgedacht: Zwei junge Menschen aus Berlin, die sich in Rom kennen und lieben lernen, wollen als Musikduo Italien erobern. DIY-Liveclubs, Aperitivo-Bars, autonome Sommerfeste entflammen und so das große Ziel aller Cantautori und Schlageristi erreichen: das „Sanremo-Festival“ – altehrwürdige Madre des Eurovision Contest und nationaler TV-Straßenfeger.
Genau so ihre Musik: fast schon zu romantisch und euphorisch, um wahr zu sein. Synthie-, aber niemals kühler Pop, bei dem die packenden Stimmen von Lo Selbo (Sebastian Eppner) und Ossi Viola (Albertine Sarges) alles zu überstrahlen vermögen. Als nostalgische 80s-Italo-Pop-Wiedergänger ließen sich Itaca (trotz stilechter Outfits!) dennoch nicht vermarkten, weil ihre Songs immer auch eine Idee zu deep und durchaus progressiv waren. Kritiker und die Band selbst verwiesen auf Namen wie Lucio Battisti, Human League oder The Knife, bevor auch nur einmal der von Eros Ramazzotti in den Mund genommen wurde.
Eine Einladung zum italienischen „X-Factor“ 2019 schlugen sie doch lieber aus. Die Mockumentary „San Remo“ aus dem selben Jahr über ihre Sehnsuchtsreise durch die italienische Entertainment-Peripherie handelte zwangsläufig viel vom Scheitern. Und ihr drittes Album drohte sogar überhaupt nicht veröffentlicht zu werden. Frust beim Abmischen, fruchtlose Labelverhandlungen; dann: Corona. Danach setzte zunächst Albertine Sarges‘ Solokarriere die weiteren Kursfähnchen. Die startete so erfolgreich, dass sogar eine UK-Headliner-Tour möglich wurde.
Sieben ewige Jahre nach dem zweiten Itaca-Album MI MANCHI erscheint EUROPOP nun trotzdem. Als ein anderes Album für eine veränderte Welt. Itaca haben sich sogar umbenannt – in Ostia, nach dem römische Stadtteil an der Tibermündung, wo ihr Abenteuer begonnen hatte. Manche Texte wurden aus dem Italienischen ins Englische übersetzt. Diese Bilingualität soll, auch als Referenz zu Kraftwerks „Trans-Europa Express“-Ära, unterstreichen, dass es nun um etwas Größeres geht als San Remo: Europa.
Damit werden allerdings auch Zweifel und Ängste zu den bestimmenden Themen von EUROPOP. Angst, die allerorten zu immer mehr Abschottung und Gewalt führt. Aber auch die Angst, errungene Freiheiten und sogar die eigene europäische Identität zu verlieren. Als promovierter Politologe hat Sebastian einen besonderen Blick darauf. Und auf Tour sammelten er und Albertine einschlägige Erfahrungen damit, sei es im UK kurz nach dem Brexit oder in Italien in persönlicher Auseinandersetzung mit dem Faschismus.
Der winzige Fiat Panda auf dem Cover wirkt nicht zufällig wie ein bedrohtes Tier inmitten der übermächtigen, rot glühenden Alpen – Style: Bob Ross als „Stranger Things“-Kulissenmaler. Der EUROPOP-Schriftzug vom Backcover wurde offenbar im ewigen Metalfeuer geschmiedet. Und in dem Video zur Single „Panda Bianca“ lauert der Horror in dem legendären Kleinstwagen selbst. Ein so skurriles wie blutrünstiges Zitatspiel, ganz im Gegensatz zu diesem schwebenden, zärtlichen Reise- und Liebeslied.
EUROPOP ist darker, dringlicher, konfrontativer als alles, wofür Itaca/Ostia bislang standen. Doch so lange das zu zum Tanzen herausfordernden Basslines führt wie in „Who Are You“ (don’t miss the hilarious „Herzblatt“-Video!) oder zu einem wirbelnden Arrangement wie in „Karma Algoritmo“, in dem uns Ossi Viola mit den Anti-Vibes italienischer Hausbesetzer ansteckt, hat sich die Auseinandersetzung mit der Dunkelheit schon gelohnt.
So melancholisch und beinahe verzagt wie in den beiden abschließenden Songs „Carpe Noctem“ (Auftritt: der Autor Houellebecque) und „Graciano“ (Auftritt: der in Sizilien tödlich verunglückte Boxer Rocchigiani) hat man Lo Selbo im Itaca-Kosmos noch nicht gehört. Aber gerade dadurch wird EUROPOP zu einem eindrucksvollen Beleg dafür, wie weit sich dieses künstlerische Konzept forterzählen und mit neuen Visionen ausmalen lässt. Denn so romantisch und euphorisierend die Geschichte von Itaca bislang auch gewesen sein mag – die von Ostia verspricht noch viel größere Abenteuer.
Oliver Götz
+ EUROPOP wurde aufgenommen und produziert von Lo Selbo
lias Sebastian Eppner und gemixt und gemastert von dem Berliner Techno- und Acidhouse - Produzenten Jan „Driver“ Siebert.
+ Sebastian wirkt neben seinen musikalischen Projekten seit 2020
auch als Musikvideo-Regisseur und Tourmusiker (u.a. für Jungstötter, Albertine Sarges).
+ Ossi Viola alias Albertine Sarges veröffentlicht seit 2021 ihre
Soloplatten auf dem britischen Label Moshi Moshi; sie tourte und
arbeitete u.a. mit Holly Herndon, Kat Frankie und Christiane
Rösinger.
+ Die aktuelle Livebesetzung von Ostia besteht neben Lo und Ossi
aus Garagen Uwe (Walls & Birds, Stella Sommer) and Oskar Militia
(Liiek, Pigeon).
+ Das Covermotiv – im Original Öl auf Leinwand – stammt von der
Berliner Künstlerin Bowser (instagram.com/bowsertattoos). Sie ist
tatsächlich zertifizierter Bob Ross Instructor.
Hi-Res Press Pictures
Hi-Rest Album Artwork
Album (WAV-Files)
Album (Soundcloud Link)
Album Lyrics